Nelly-Sachs-Gymnasium Neuss/Lyrik im thematischen Längsschnitt/Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor

Aus ZUM Projektwiki

Annette von Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor (1842)

O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,

Wenn es wimmelt vom Heiderauche,

Sich wie Phantome die Dünste drehn

Und die Ranke häkelt am Strauche,

Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,

Wenn aus der Spalte es zischt und singt,

O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,

Wenn das Röhricht knistert im Hauche!


Fest hält die Fibel das zitternde Kind

Und rennt als ob man es jage;

Hohl über die Fläche sauset der Wind –

Was raschelt drüben am Hage?

Das ist der gespenstige Gräberknecht,

Der dem Meister die besten Torfe verzecht;

Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!

Hinducket das Knäblein zage


Vom Ufer starret Gestumpf hervor,

Unheimlich nickt die Föhre,

Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,

Durch Riesenhalme wie Speere;

Und wie es rieselt und knittert darin!

Das ist die unselige Spinnerin,

Das ist die gebannte Spinnlenor’,

Die den Haspel dreht im Geröhre!


Voran, voran, nur immer im Lauf,

Voran als woll’ es ihn holen;

Vor seinem Fuße brodelt es auf,

Es pfeift ihm unter den Sohlen

Wie eine gespenstige Melodei;

Das ist der Geigermann ungetreu,

Das ist der diebische Fiedler Knauf,

Der den Hochzeitheller gestohlen!


Da birst das Moor, ein Seufzer geht

Hervor aus der klaffenden Höhle;

Weh, weh, da ruft die verdammte Margreth;

,,Ho, ho, meine arme Seele!’’

Der Knabe springt wie ein wundes Reh,

Wär’ nicht Schutzengel in der Näh’,

Seine bleichenden Knöchelchen fände spät

Ein Gräber im Moorgeschwele.


Da mählich gründet der Boden sich,

Und drüben, neben der Weide,

Die Lampe flimmert so heimatlich,

Der Knabe steht an der Scheide.

Tief atmet er auf, zum Moor zurück

Noch immer wirft er den scheuen Blick;

Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,

O schaurig wars in der Heide![1]

  1. aus: A. v. Droste-Hülshoff: Gedichte. 1844