Wendepunkte des 20. Jahrhunderts/Alexander Mitscherlich: die deutsche „Unfähigkeit zu trauern“

Aus ZUM Projektwiki

Der Verlust Hitlers als „Ich-Ideal“ ist Thema in Alexander Mitscherlichs Werk "Die Unfähigkeit zu trauern", zuerst erschienen 1967.

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Adolf Hitler, 1938, Unbekannter Fotograf, Deutsches Bundesarchiv, Lizenz: CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.


Die Unfähigkeit zu trauern

Autorin: JoMa

„Die Unfähigkeit zu trauern“ ist ein psychoanalytisches Buch von Margarete und Alexander Mitscherlich, das 1967 veröffentlicht wurde. Es behandelt die Deutsche „Unfähigkeit zu trauern“ im Gesichtspunkt der NS-Vergangenheit und den damit verbundenen Gefühlen von Scham und Schuld, mit welchen die Deutschen nur schwer umgehen können.




Zusammenfassung

Das Buch behandelt, wie der Titel schon sagt, die Deutsche Unfähigkeit zu trauern. Dabei geht es vor allem um die unbewältigte NS-Vergangenheit und die fehlende Auseinandersetzung mit der NS-Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Schwerpunkt liegt jedoch nicht bei der Trauer um die Opfer der NS-Herrschaft, sondern um den Verlust Hitlers als „Ich-Ideal“ (s. S.30). Dem geht voraus, dass Alexander Mitscherlich 1963 die Schrift „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ veröffentlichte, in welcher er die Theorie niederlegte, dass durch den Verlust traditioneller Werte und Normen in der Moderne, die Gesellschaft zum einen aufgeklärter und eigenständiger werde, zugleich aber die Gefahr einer Anfälligkeit für Ideologien und Massenwahn herrsche.

Diese Theorie überträgt Mitscherlich auf das nationalsozialistische Deutschland und die Herrschaft Hitlers. Somit wird Hitler zum „Ich-Ideal“ der Deutschen. Der Verlust Hitlers als „Ich-Ideal“ führt bei der Bevölkerung zu einer Selbstentwertung, welche mit der „Derealisierung“ des Geschehenen abgewehrt wird (s. S.30), was bedeutet, dass die Bevölkerung die Geschehnisse verleugnet. Hinzu kommen Gefühle von Scham, Schuld und Angst, welche von den meisten Deutschen abgewehrt und verdrängt werden.

In ihrem Werk versuchen die Mitscherlichs also eine Verbindung zwischen der Verdrängung der NS-Zeit und der psychischen Verfassung der Gesellschaft herzustellen. Die „Unfähigkeit“ der Deutschen zu trauern führen sie außerdem auf die Integration der Bürger ins nationalsozialistische Deutschland und den damit verbundenen Führerkult zurück, da gerade dadurch der von ihnen zuvor beschriebene Massenwahn entstand, dem sich die Deutschen nur schwer entziehen konnten.



Die Autoren
Alexander Mitscherlich

Alexander Mitscherlich wurde am 20. September 1908 in München geboren.

1933 zieht er nach Berlin und fängt dort an Medizin zu studieren. Zwei Jahre später muss er jedoch in die Schweiz fliehen, da er aufgrund von Widerstandsarbeit steckbrieflich gesucht wird. Trotzdem setzt er sein Medizinstudium in Zürich fort.

Sein Staatsexamen legt er 1939 in Heidelberg ab. Nach dem Krieg ist er bei den Nürnberger Prozessen als Beobachter anwesend, zu welchen er mehrere Werke veröffentlicht.

Ab 1947 gibt er die Zeitschrift „Psyche“ heraus.

Außerdem gründet Mitscherlich 1949 eine Abteilung für psychosomatische Medizin an der Universität Heidelberg, welche später in eine eigene Klinik umgewandelt wird.

Nachdem er 1947 Margarete Nielsen kennenlernte, heirateten die beiden 1955.

Des Weiteren gründet er zusammen mit Margarete Mitscherlich 1960 das Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt.

1967 veröffentlicht er zusammen mit Margarete Mitscherlich das Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“.

Alexander Mitscherlich erhielt in den nächsten Jahren verschiedene Auszeichnungen, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, die Goldene Wilhelm-Bölsche-Medaille, den Kulturpreis der Stadt München und die Wilhelm-Leuschner-Medaille.

1980 veröffentlicht er seine Autobiographie „Ein Leben für die Psychoanalyse“.

Am 26. Juni 1982 stirbt Alexander Mitscherlich in Frankfurt.



Margarete Mitscherlich

Margarete Nielsen, später Mitscherlich, wurde am 17. Juli 1917 in Gravenstein geboren.

Sie studierte Medizin und Literatur in München und Heidelberg, 1947 lernte sie Alexander Mitscherlich kennen, den sie 1955 heiratete.

Ab 1960 arbeitete Margarete Mitscherlich vorrangig im Sigmund-Freud-Institut.

1967 veröffentlichte sie zusammen mit Alexander Mitscherlich das Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“.

Außerdem war sie für mehrere Jahre die Herausgeberin der Zeitschrift „Psyche“.

1977 bekennt Margarete Mitscherlich sich zum Feminismus und veröffentlicht fortan Werke zur Psychoanalyse und zum Feminismus.

Margarete Mitscherlich erhielt im Laufe der Jahre verschiedene Auszeichnungen, darunter die Wilhelm-Leuschner-Medaille, den Kulturpreis der Stadt Flensburg, die Ehrenplakette der Stadt Frankfurt am Main, das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, den Erwin-Chargaff-Preis der Stadt Wien und den Tony-Sender Preis.

Am 12. Juni 2012 verstirbt Margarete Mitscherlich in Frankfurt.



Kritik

Viele Leser scheinen nicht begriffen zu haben, dass es in dem Buch nicht um das Phänomen der emotionalen Blockade der Deutschen geht, sondern viel mehr um die Verknüpfung dieser Blockaden mit der Verdrängung der NS-Vergangenheit und den Lehren der „Volksgemeinschaft“. Außerdem steht im Vordergrund nicht die Trauer um die Opfer, sondern die Trauer um das verlorene Ideal Hitlers. Der Begriff „Unfähigkeit zu trauern“ wurde dadurch zwar zum Schlagwort, verlor jedoch alle seine dahinterstehenden Analysen und Argumente.

Viele Leser bemängelten außerdem die schwer verständliche Sprache, die ihren Ursprung in der Verwendung vieler psychoanalytischer Fachausdrücke findet und das Lesen erschwert.

Auch würden Mitscherlichs zu sehr vom Einzelnen auf die Gemeinschaft schließen, es werde zu viel verallgemeinert, als das es noch Beweiskraft hätte.

Weiterführend kritisierte Tilmann Moser, dass das Buch durch seine Theorie die Ablehnung der Kommunikation zwischen den Generationen fördere und außerdem den Deutschen jegliche Art von Einfühlung verweigere.



Erörterung der Relevanz zum Buch der Mitscherlichs: die deutsche „Unfähigkeit zu trauern“

Autorin: LF


Das Sachbuch „Die Unfähigkeit zu trauern“ von Margarete und Alexander Mitscherlich, welches 1967 veröffentlicht wurde, thematisiert die schwere Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Deutschland, weil die deutschen Bürger zu unfähig seien zu trauern und nicht mit der Vergangenheit umgehen könnten. Deshalb stellt sich die Frage, ob diese Thematisierung noch Relevanz in der heutigen Zeit hat?


Zunächst wurde in dem Buch genannt, dass die deutschen Bürger sich zur damaligen Zeit nicht mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt und diese verdrängt hätten. Wenn man diese Aussage auf heute bezieht, wird klar, dass sich vieles über die Jahre verändert hat, denn es wurde der internationale Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts im Jahr 2005 eingeführt. Dieser findet jedes Jahr am 27. Januar statt um die ermordeten Juden zu ehren.


Hitler wird in dem Buch als „Ich-Ideal“ dargestellt, d. h., dass er als Entwurf des Ichs sowie das persönliche Bild des richtigen Verhaltens und Erlebens für die Deutschen zur damaligen NS-Zeit war. Dies ist heutzutage nicht mehr der Fall, da die meisten Deutschen Hitler nicht als Ideal ansehen, sondern als den NS-Führer, der Deutschland von 1933 bis 1945 als Diktator führte. Durch die heutige Aufklärung im Geschichtsunterricht oder durch digitale Medien wird schnell klar, dass Hitler nicht das Ideal für Deutschland mehr ist, denn wir leben in einer Demokratie, nicht in einer Diktatur.


Das Verdrängen der NS-Vergangenheit findet zudem nicht mehr statt, da man entweder durch die Schule mit dieser konfrontiert wird oder auch teilweise durch die Medien oder auch durch Museen, wie z. B. das staatliche Museum Auschwitz-Birkenau. Somit stößt man im Alltag auch auf Denkmäler oder Museen, die die NS-Zeit thematisieren und aufklären, was damals passiert ist.


Abschließend nennen die Mitscherlichs, dass die Deutschen durch Hitlers Scheitern die Geschehnisse abstreiten und Gefühle wie Scham, Schuld oder auch Angst abwehren und verdrängen. Somit realisieren sie diese nicht. Dies ist heutzutage schwer zu beurteilen, da die meisten nicht zu dieser Zeit gelebt und auch nicht mitgewirkt haben. Trotzdem ist klar, dass die Geschehnisse stattgefunden haben, deswegen kann man diese nicht mehr abstreiten.


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die behandelten Aspekte im Sachbuch heutzutage nur noch teilwiese eine Relevanz haben, denn die Bevölkerung Deutschlands setzt sich viel mehr mit der Geschichte auseinander und verdrängt diese nicht, natürlich gibt es immer wieder Ausnahmen, aber die meisten kennen die Vergangenheit Deutschlands. Die aufgegriffenen Aspekte treffen auf einzelne Personen zu, da manche sicher nicht denken, dass die NS-Anhänger falsch gehandelt haben, aber das ist heutzutage mehr der rechte Block, der viele Fakten leugnet. Somit hat die Aufarbeitung der NS-Zeit heute noch eine Relevanz, damit diese nicht nochmal stattfindet.


Literaturverzeichnis

Barbara Schmidt, Biografie Alexander Mitscherlich, veröffentlicht in: LeMO, 19.01.2016, gelesen: 26.03.2020.


Daniel Weidner, Daniel Weidner: »Die Unfähigkeit zu trauern« – Geschichte einer Abwehr?, veröffentlicht in: ZfL Blog, 14.11.2017, gelesen: 26.03.2020.


Margitta Hösel, Lebenslauf, veröffentlicht in: Lebenslauf, 2017, gelesen: 26.03.2020.


Tobias Freimüller, Der versäumte Abschied von der Volksgemeinschaft. Psychoanalyse und „Vergangenheitsbewältigung“, veröffentlicht in: Docupedia, 30.05.2011, gelesen: 26.03.2020.




Anmerkung: Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die 18. Auflage von „Die Unfähigkeit zu trauern“.