Nelly-Sachs-Gymnasium Neuss/Die Mitte der Welt/Romanende
Kapitel 18: Wiedersehen mit Visible.
Auf den ersten Blick hat sich in den fünf Monaten, in denen ich weg war, nicht viel an Visible verändert. Es ist genauso kaputt und alt wie vorher.
Ich habe Glass und Dianne nicht gesagt, dass ich wieder zurück bin. Dementsprechend verwundert, aber trotzdem erfreut ist Glass, als sie mir die Tür aufmacht. Gleich wirft sie sich um meinen Hals, drückt und küsst mich, so wie sie es noch nie zuvor getan hat. Es tat gut, nach so langer Zeit ihren Geruch und Körper, den ich nicht so füllig in Erinnerung hatte, an mir zu spüren. Hinter ihr sah ich Michael grinsend und überrascht zugleich, noch im Schlafanzug, aus der Küche treten. Es brauchte keine zehn Sekunden, bis ich Eins und Eins zusammenzählen konnte. Als Glass sich dann aus meiner Umarmung löste und einen Schritt zurücktrat, gab es keinen Zweifel mehr: Glass ist schwanger. Das einzige Gefühl, dass ich in diesem Moment verspürte, war pure Freunde. Ich hatte so viele Fragen und gleichzeitig so viel zu erzählen, dass sich mein Gesicht nicht richtig zu einer Emotion anordnen wusste.
Schließlich fanden wir uns alle zusammen mit einer großen Kanne Tee in der Küche wieder. Glass hatte Dianne angerufen und Bescheid gesagt, dass ich wieder da bin. Sie hatte sich mit Jan zum feierlichen ersten Eisessen des Jahres verabredet und mir eine Kugel mitgebracht. Wie selbstverständlich trat Jan in die Küche, begrüßte mich und nahm sich eine Tasse Tee. Da ich bereits auf Veränderungen eingestellt war, verwunderte mich diese Selbstverständlichkeit eher weniger. Genauso wenig, wie die offensichtlich gewachsenen Lebensfreude meiner Schwester. Sie war außer sich vor Freunde, mich wiederzusehen und schmiss sich genauso wie Glass um meinen Hals. Mir war es noch nie aufgefallen, aber sie roch genauso wie Glass.
Vier Stunden lang erzählten wir uns gegenseitig von den vergangenen fünf Monaten. Wie schon erwartet, wohnt Michael nun in Visible, seitdem klar war, dass Glass schwanger ist. Das ist immerhin schon vier Monate her. Bereits vor meiner Abreise wusste ich, dass meine Mutter glücklich mit Michael war, doch jetzt sehe ich nicht nur das Glück meiner Mutter, sondern kann auch ein Leuchten in ihren Augen sehen. Die Frage, ob sich das Schauspiel der letzten Schwangerschaft wiederholen könnte, kommt mir sofort in den Kopf, doch verschwindet auch wieder genauso schnell, als ich den Blick meiner Schwester sehe, mit dem sie den Bauch unserer Mutter betrachtet. Somit musste das Thema für mich nicht mehr angesprochen werden und die Stimmung blieb aufrecht. Glass und Dianne müssen sich offensichtlich ausgetauscht haben und ihre Liebe zueinander wiedergefunden haben. Ich frage mich nur, wie sie das in so kurzer Zeit geschafft haben. Schnell beantwortet sich diese Frage in meinem Kopf, als Dianne mir erzählt, dass eben der Jan, der sie ursprünglich als Kind schwer verletzt hat, nun ihr Freund ist. Er hat ihr beim endgültigen Tod von Zephyr geholfen. Es muss schrecklich für sie gewesen sein. Doch ich freue mich für meine Schwester, die wahre Liebe gefunden zu haben.
Der Tag vergeht und es fällt mir nun leicht, mich wieder in Visible einzuleben, denn in der Luft rieche ich nicht, wie früher Hass, Lügen und gebrochene Herzen. Nein. In Visible riecht es zum ersten Mal nach Harmonie.
Nicht nur ich hatte mich verändert. Auch meine Familie hat sich die Zeit für sich genommen und nun wird mir klar, was diese vielen Veränderungen möglich gemacht hat. Meine Familie hat Liebe mit Liebe erkämpft.
Erstellt von: SoGNSG