Nelly-Sachs-Gymnasium Neuss/Lyrik im thematischen Längsschnitt/Gottfried Benn: Schöne Jugend

Aus ZUM Projektwiki

GOTTFRIED BENN

Schöne Jugend

Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,

sah so angeknabbert aus.

Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.

Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell

fand man ein Nest von jungen Ratten.

Ein kleines Schwesterchen lag tot.

Die andern lebten von Leber und Niere,

tranken das kalte Blut und hatten

hier eine schöne Jugend verlebt.

Und schön und schnell kam auch ihr Tod:

Man warf sie allesamt ins Wasser.

Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

1912

aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, in Verb. m. Ilse Benn hrsg. v. Gerhard Schuster und Holger Hof, Klett-Cotta, Stuttgart 1986.


Der erste Eindruck
Inhalt

Benn stellt in seinem Gedicht das tote Mädchen mehr als Objekt und weniger als Individuum dar. Im zweiten Vers beschreibt er das Mädchen als "angeknabbert" (V.2). Diese Adjektiv wird im herkömmlichen Sinne eher mit Anknabbern eines Lebensmittels etc beschrieben. Dem Mädchen wird also in diesem Vers schon die Menschlichkeit abgeschrieben und sie wird als Objekt dargestellt. In den Versen drei bis fünf wird der Brustkorb des Mädchen zur Obduktion aufgebrochen, hervorkommen eine löchrige Speiseröhre und ein Rattennest. Das Wort "aufgebrochen" nimmt dem Mädchen erneut die Menschlichkeit, da mit aufbrechen ebenfalls eher Objekte beschrieben werden. Durch den Fund des Rattennestes und seine Bezeichnung als "Laube" (V.4) wird der Körper des Mädchen als ein heimischer Ort der Ratten beschrieben. Das lyrische Ich beschreibt den Körper des Mädchen von außen nach innen, je weiter in den Körper vorgedrungen wird desto mehr verliert das tote Mädchen an Menschlichkeit. Reise?

Daraufhin wird der Fund eines "kleinen Schwesterchens" (V.6) beschreiben, welche jedoch keine weiter Leiche darstellt, sondern für die Ratten stehen soll. Dies wird deutlich durch den nächsten Vers "die anderen lebten von Leber und Niere" (V.7) womit die Nahrungsaufnahme der Ratten durch den Körper des toten Mädchens beschrieben wird. Im weiteren wird das Mädchen zum Nährboden der Ratten. Sie "tranken das kalte Blut" (V.8) und "hatten hier eine schöne Jugend erlebt" (V.9). Damit wird verdeutlicht, dass mir dem Titel "Schöne Jugend" nicht das Mädchen, sondern die Ratten beschrieben werden, die durch die Ernährung durch den Körper des toten Mädchen eine schöne Jugend erleben konnten. Zum Ende des Gedichts wird der qualvolle Tod der Ratten beschrieben, die zusammen mit der Leiche des Mädchen ins Wasser geworden werden. Die Ratten erlitten einen Tod begleitet mit viel Leid, was durch die letzte Aussage "Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten" (V.12) verdeutlicht. Die schöne Jugend der Ratten endet somit abrupt. Allgemein lässt sich hier dine verkehrte Welt feststellen. Die Todesursache des Mädchen wird zu keinem Zeitpunkt hinterfragt, genauso wenig wird um ihren Tod getrauert. Die Ratten erfahren im Gegenzug starke Aufwertung. Normalerweise würden Ratten starken Ekel hervorrufen, in diesem Fall werden sie als lieblich betrachtet und ihr Tod wird betrauert.


Sprache

Benn verwendet eine einfache und direkte Sprache, die jedoch durch die furchterregenden Bilder eine starke Wirkung erzielt.

Wörter wie "angeknabbert" (V.2), löcherig (V.3) oder "kaltes Blut" (V.8) erzeugen verstörende Bilder beim Leser. Die sachliche Beschreibung der Autopsie und der Ratten unterstreicht die Grausamkeit der Situation.

Der Titel "Schöne Jugend" steht im starken Kontrast zu den beschriebenen Szenen des Verfalls und des Todes. Der Titel stellt eine Art "Lesertäuschung" dar. Der Leser stellt ganz andere Erwartungen an das Gedicht als der Inhalt darstellt. Somit wird die Wirkung des Inhaltes verstärkt, da der Leser einen komplett anderen Inhalt erwartet.

Der sachliche Ton des Gedichtes schafft eine emotionale Distanz, die das Grauenhafte der beschriebenen Szenen noch stärker hervortreten lässt. Der letzte emotionslose Kommentar zu den Ratten "Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten" (V.12) stellt die beschriebene emotionale Distanz des Autors zu den Lebewesen dar.

Der Autor verwendet in seinem Gedicht außerdem stilistische Mittel, welche den Inhalt unterstützen. Das Rattennest stellt er metaphorisch als "Laube" (V.4) dar. Damit beschreibt er den Körper des Mädchens als einen gemütlichen und geborgenen Ort für die Ratten.

Die Ratten beschreibt er durch eine Personifikation als "kleine Schwesterchen" (V.6). Durch diese Personifikation wird nicht direkt eindeutig definiert, ob es sich bei den kleinen Schwesterchen um eine weitere Tote oder um die Ratten handelt.


Form

Das Gedicht besteht aus 1 Strophe mit 12 Versen. Die Form des Gedichtes ist im Gegensatz zu andere expressionistischen Gedichten eher ungebunden. Es gibt im gesamten Gedicht kein durchgängiges Metrum und kein bzw. kein regelmäßiges Reimschema. Der verwirrende Inhalt des Gedichtes wird damit in der Form des Gedichtes widergespiegelt. Auffällig ist auch, dass das Gedicht einige Enjambements beinhaltet, bei welchen der Anfang des umgebrochenen Verses mit einem kleinen Buchstaben beginnt (V.1f, 4f, 7ff). Die allgemein freie Form von Benns Gedicht lässt sich vergleichen mit dem Gedichtsaufbau moderner Gedichte.

Entstehungshintergrund

Gottfried Benn wurde von seinen Freunden als "Medizyniker" bezeichnet, was seine doppelte Rolle als Mediziner und Zyniker darstellen sollte. Benns medizinische Arbeit brachte ihn häufig mit Leichen in Kontakt, was zu einem zynischen Umgang mit dem Tod führte. Diese Haltung zeigt sich in seinem respektlosen und entmenschlichenden Umgang mit der im Gedicht beschriebenen Leiche.




[1]http://www.planetlyrik.de/lyrikkalender/gottfried-benns-gedicht-schoene-jugend/