Nelly-Sachs-Gymnasium Neuss/Erzählungen: Lebensentwürfe in der Literatur aus unterschiedlichen historischen Kontexten/Heinrich v. Kleist: Der Findling: Unterschied zwischen den Versionen

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Im ''Findling'' dreht sich alles um einen toten Hel­den und einen lebendigen Bösewicht.  Elvire und Piachi, die Adoptiveltern des kleinen Nicolo, versuchen, sich heroisch im Sinne der christlichen Nächs­tenliebe zu verhalten, indem sie eine pestinfizierte Waise in ihre Familie aufnehmen<sup>206</sup> Doch diese Adoption scheitert: Nicolos Triebe, als symbolischer Ausdruck seiner ganzen realen, d.h. körper­lichen, Existenz stören und zerstören den Plan, den die Eltern für und über ihn geschmiedet haben.
 
 
'''''Piachi und Elvire: Scheinehe und christlicher Anspruch'''''
 
Die Eheleute Antonio und Elvire Piachi bilden ein recht ungleiches Paar: Piachi gehört mit seinen geschätzten 51 Jahren (Rieger, S.28) zu den Grei­sen in Kleists Erzählungen, seine Frau ist nicht einmal halb so alt wie er<sup>208</sup>. Obwohl physisch längst nicht mehr auf der Höhe<sup>209</sup>, versucht Piachi, seine kör­perliche Schwäche durch „vorwiegend männlich-autoritäre Charakterzüge" (S.33), zu kompensieren. Dieser „gefährdete Patriarch" (S.28) will nach dem fahrlässigen Verlust seines eigenen Sohnes nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkommen und wählt ein Findelkind von der Straße als Ersatz. Damit begeht er einen Fehler, denn der „männliche Rivalitätskampf' (Rieger, S.33) eines impotenten Alten mit einem potenten Jungen wird durch die Aufnahme eines männlichen Kindes quasi vorprogrammiert. Die­ ser übereilte „Kindertausch" (Scheffels, S.161:f) wird noch dadurch ver­ stärkt, dass der Findling dem von seiner Frau verehrten Ritter Colino ähn­lich sieht<sup>210</sup>. Nicolo kommt also von Anfang an eine Ersatzrolle innerhalb der Familie Piachis zu, die maßgeblich auf seinen Körper rekurriert.
 
Die Ehe der beiden Erwachsenen ist nicht nur aufgrund des ausbleibenden ehelichen Verkehrs eine „Scheinehe"<sup>211</sup>, sondern auch, weil es beiden an ,,interfigürlicher Kommunikation und Sensitiviät" fehlt (Rieger, S. 202)<sup>212</sup>. Doch nicht nur Piachi ist ein Mann mit schwächlicher Konstitution, auch seine Frau leidet chronisch an den Folgen eines Kindheitstraumas: Im Alter von 13 Jahren rettete sie ein junger Mann aus ihrem brennenden Elternhaus und starb an den Folgen (223). Ihr selbst blieb dieses Erlebnis durch einen „stillen Zug von Traurigkeit im Gemüt" (222) präsent, auch dann noch, als sie Piachi heiratete (223). Kurz nach der Hochzeit erkrankte sie an einem ,,hitzigen Fieber" (224), das sich zu einem chronisch „überreizten Nerven­ system" (224) entwickelte. Zurück blieb ein „mildes, von Affekten selten bewegtes Antlitz" (227), auf dem sich Gefühle nur zeigen, wenn sie ihren Retter betreffen<sup>213</sup> . Ihre Ehe mit einem alten Mann bietet ihr väterlichen Schutz ohne „Gattinpflicht", wie sich im J]brigen auch die Marquise arran­ giert. Die erotische Seite ihrer Weiblichkeit, ihr Begehren, kann Elvire, auch von Piachi ungestört, am Bild Colinos ausphantasieren<sup>214</sup> Ein Bild reagiert nicht und bietet somit die ideale Projektionsfläche für eine gefahrlose, d.h. sündenfreie Erotik<sup>215</sup>. So ist die körper- und willenlose Ikone des genuesi­schen Ritters als Sublimation ihrer erotischen Empfindungen lesbar<sup>216</sup>.
 
Zu Gunsten des kleinen Findlings, der „so fremd und steif ... vor ihr stand" (221) überwindet Elvire aber ihre stete Traurigkeit, indem sie ihn „an ihre Brust drückte, ihm das Bette, worin jener geschlafen hatte, zum Lager an­ wies, und sämtliche Kleider desselben zum Geschenk machte" (221 ). Nicht nur sie, auch Piachi vollzieht den Kindertausch binnen kürzester Frist: Piachi schickte ihn in die Schule ... und da er ... den Jungen in dem Maße lieb­ gewonnen, als er ihm teuer zu stehen gekommen war, so adoptierte er ihn, mit Einwilligung der guten Elvire ... schon nach wenigen Wochen, als seinen Sohn. (221) Der Hinweis auf den Preis für den Jungen, hier auf das teure Schulgeld be­ zogen, deutet Piachis Charakter an. Er ist ein „wohlhabender Güterhändler" (219) und Geschäftsmann, ohne Aussicht auf einen Erben. Als „ein ge­ schworner Feind aller Bigotterie" (221) ist er im Grunde doch ein Pharisäer: Er bricht seine Geschäftsreise erst ab, nachdem ihm klar wird, dass bei ge­schlossenen Stadttoren ohnehin kein Handel möglich ist . Beide, Piachi und Elvire, suchen mit ihrem vermeintlichen Altruismus ihre individuellen Schwächen zu büßen. Piachi will sich selbst etwas Gutes tun und seine Frau dabei schonen; Elvire wiederum kann durch die Adoption ihren mütter­ lichen Pflichten nachkommen, und so die götzenhafte Anbetung der Ikone Colinos sühnen, ohne mit dem 3.Gebot in Konflikt zu geraten.
 
Nicolo aber stört und zerstört dieses Arrangement von christlichem An­spruch und individueller Bequemlichkeit; sein Körper tritt unübersehbar zwischen die Eltern und durchbricht in seiner realen Lebhaftigkeit die un­realistische Imagination der Alten. Denn sie missachten den kleinen Jungen in einer besonderen Art und Weise: Sie zwingen ihn ungefragt in die Rolle des verstorbenen Paolo, das macht besonders die Kleidergabe deutlich, und ignorieren Nicolos eigene Persönlichkeit. Sein schlechter Charakter, vorhersehbar im „früh in der Brust desselben sich regenden Hang für das weibliche Geschlecht" (222), hindert sie nicht daran, ihm all ihr Hab und Gut zu überschreiben.
 
'''''Störfaktor Körper: Nicolo als Inkarnation des ßösen'''''
 
Triebhaftigkeit und Willensstärke sind die beiden Faktoren, die einen Men­ schen zu einem unberechenbaren Körper machen. Beides sind die charak­ terlichen Eigenschaften des Findlings Nicolo, der als diametrale Gegenfigur zum körperlosen Helden Colino den „höllischen Bösewicht" (235) darstellt. Diese Polarität zwischen Colino und Nicolo wird im Text verdeutlicht anhand der auffallig detaillierten Körperdarstellung des Findlings:
 
Er war von einer besonderen, etwas starren Schönheit, seine schwarzen Haare hin­ gen ihm, in schlichten Spitzen, von der Stjm herab, ein Gesicht beschattend. das, ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte.  (221)21 <sup>8</sup>
 
Die Pestinfizierung (219) macht seinen Körper zu einer Art ,biologischen Waffe'. Jedoch: hinter seiner starren Miene kocht weniger das Gift der Pest, als das seiner maßlosen Begierde; sie wird schon früh symbolisch angedeu­ tet im kindlichen „Nüsseknacken"'''<sup>219</sup>.''' Nicolos Miene verändert sich zuneh­ mend mit seiner stetig offenkundiger werdenden Bosheit. Mit „einem häßli­ chen Zucken seiner Oberlippe" verlässt er den Raum (233) bei der Ent­ deckung, dass Elvires Angebeteter doch nicht er selber ist. Auch die Verle­ genheit gegenüber Xaviera treibt ihm die Farbe ins Gesicht<sup>220</sup>. Göttler (S.28) geht von Nicolos „absoluten, nicht wandelbaren Charakter" aus, der sich in seiner Kindheit nur mittels einer undurchschaubaren Mimik kaschie­ ren ließ<sup>221</sup>. Doch „sein verwildertes Herz" (231) versucht sich des guten Herzens Elvires zu bemächtigen:
 
Er hatte ... im Scharfsinn seiner schändlichen Leidenschaft, ganz richtig gerech­ net; denn kaum hatte Elvire ... nach einer stillen und ruhigen Entkleidung ...den seidenen Vorhang, der die Nische bedeckte, eröffnet und ihn erblickt: als sie schon: Colino! Mein Geliebter! Rief und ohnmächtig auf das Getäfel des Bodens niedersank. Nicolo trat aus der Nische hervor; er stand einen Augenblick, im An­ schauen ihrer Reize versunken, und betrachtete ihre zarte, unter dem Kuß des To­ des plötzlich erblassende Gestalt: hob sie aber bald, da keine Zeit zu verlieren war, in seinen Armen auf, und trug sie ... auf das im Winkel des Zimmers stehende Bett. Dies abgetan, ging er, die Tür zu verriegeln ... und sicher, daß sie auch nach Wiederkehr ihrer verstörten Sinne, seiner phantastischen, dem Ansehen nach überirdischen Erscheinung keinen Widerstand leisten würde, kehrte er jetzt zu dem Lager zurück, bemüht, sie mit heißen Küssen auf Brust und Lippen aufzuwecken. (234)222
 
Scheffels (S.170) deutet die Bettszene als eine, die „unter veränderten Vor­ zeichen noch einmal die Gesamtkonstellation [bezeichnet]; Nicolos Ver­ such, in die Familie einzudringen, wurde ihm durch den Vater verweigert". Seine Interpretation lässt sich noch spezifizieren: Nicolos körperlicher Ver­ such, in die Familie, die nicht ihn persönlich, sondern nur eine Projektion auf ihn, adoptieren wollte, wird ihm verweigert.
 
Am Wendepunkt der Erzählung (234f)<sup>223</sup> reagieren alle Beteiligten körperlich, weil Nicolo als von seiner Physis beherrschter Mensch das Ge­schehen bestimmt. Er vergreift sich an Elvire, wird gestört und von einem sprachlosen Piachi, Elvire im Arm und eine Peitsche in der Hand, des Hau­ses und damit der Familie verwiesen. Doch die gestische Ausweisung des Findlings aus dem familiären Bündnis scheitert an der testamentarischen Verfügung<sup>22</sup>, so dass Piachi zu körperlichen Mitteln greift. Er mobilisiert seine längst erloschen geglaubten Kräfte, wirft „den von Natur schwächeren Nicole nieder und drückt(e) ihm das Gehirn an der Wand ein" (236). Um das ursprünglich autoritäre Beziehungsgefüge<sup>225</sup> wieder herzustellen, ver­ greift er sich noch einmal an dem schon zertrümmerten Kopf, ,,da er den Nicole zwischen den Knien hielt, und ihm das Dekret in den Mund stopfte." Die „Kippfigur" Nicoles vor Piachi, die nach einer quasi religiösen Unter­ werfungsgeste umschlägt „zur plötzlichen Herrschaftsusurpation" (Österle, S.176) wird in der Körpersprache deutlich: Zunächst steht der an Elvires Bett ertappte Nicole „wie vom Donner gerührt" (234), als Piachi unerwartet eintritt. Darauf, weil „seine Büberei auf keine Weise zu bemänteln war", wirft er sich „dem Alten zu Füßen, und bittet um Vergebung" (234). Da ihm diese aber nicht gewährt wird, richtet er sich zu voller Größe auf und bean­ sprucht Haus und Hof „Durch diese unerhörte Frechheit wie entwaffnet" (235), legt Piachi seine Peitsche weg und läuft davon. Während Nicoles Triebhaftigkeit die Ursache für den Eklat innerhalb der Familie aus­ machte<sup>226</sup>, ist seine Willensstärke, sich im entscheidenden Moment auf ein Papier zu berufen und damit „eines Tartüffe völlig würdig" (235) zu erwei­ sen, der Auslöser für seine Ausweisung bzw. Auslöschung. Erst Tage später kehrt der Vater zurück und reißt die Macht wieder an sich.
 
Scheffels (S.161) verwendet für den Findling den Begriff „übersehener Körper", weil seine Eingliederung nicht über den Körper, sondern über die Ökonomie erfolgt. Den „fremden und fremd gehenden Körper" (S.164) ver­ suchen die Eltern zu disziplinieren, weil sie seine körperlichen Eskapaden und die Brechung des Inzest-Tabus fürchten. Doch nicht nur der fremde Körper macht ihnen Angst, auch ihr eigener scheint ihnen so unheimlich, dass sie auch sich selbst reglementieren: Der alte Mann sublimiert seine Triebe durch Arbeit, die Frau die ihrigen durch mystische Liebe. Nicolo aber verweigert sich jedem Reglement: ,,Der Körper, der im Hause nichts gilt, wird außerhalb des Familienraumes verabsolutiert" (Scheffels, S.163): Nicolos hemmungslose sexuelle Entfaltung, z.B. in der Beziehung zu Xa­ viera<sup>22</sup>7, ist ein Aspekt, den seine Eltern sich selbst verboten haben. Darüber hinaus kommt sein Verkleidungsspiel einer symbolischen Verdopplung sei­ nes Körpers gleich<sup>228</sup>. Somit trägt Nicole seinen Beinamen zu Recht: er ist wahrhaftig ein Findling, ein harter Brocken, scheinbar zufällig in eine als Familie arrangierte Landschaft geworfen<sup>229</sup>.
 
In dieser Erzählung ist nur das Böse real fassbar, der einzige Held ist tot und zu einem Bild erstarrt<sup>230</sup>. Das heroische Ideal ist nur noch eine geistige Projektion von Etwas, das auf Erden nicht lebensfähig ist. Doch Autor und Er­zählung bemühen sich, die fatale Erkenntnis zu retten: Auch wenn der, die reale und die erzählte Zeit, regierende Geist ein böser zu sein scheint<sup>231</sup>, so bleibt den Menschen das Bild des Guten weiter im Gedächtnis. Oder, um mit Kleist zu sprechen: ,,Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht: es ist bloß ein unbegriffener!"<sup>232</sup>.
 
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Version vom 10. Juli 2022, 20:15 Uhr

Im Findling dreht sich alles um einen toten Hel­den und einen lebendigen Bösewicht. Elvire und Piachi, die Adoptiveltern des kleinen Nicolo, versuchen, sich heroisch im Sinne der christlichen Nächs­tenliebe zu verhalten, indem sie eine pestinfizierte Waise in ihre Familie aufnehmen206 Doch diese Adoption scheitert: Nicolos Triebe, als symbolischer Ausdruck seiner ganzen realen, d.h. körper­lichen, Existenz stören und zerstören den Plan, den die Eltern für und über ihn geschmiedet haben.


Piachi und Elvire: Scheinehe und christlicher Anspruch

Die Eheleute Antonio und Elvire Piachi bilden ein recht ungleiches Paar: Piachi gehört mit seinen geschätzten 51 Jahren (Rieger, S.28) zu den Grei­sen in Kleists Erzählungen, seine Frau ist nicht einmal halb so alt wie er208. Obwohl physisch längst nicht mehr auf der Höhe209, versucht Piachi, seine kör­perliche Schwäche durch „vorwiegend männlich-autoritäre Charakterzüge" (S.33), zu kompensieren. Dieser „gefährdete Patriarch" (S.28) will nach dem fahrlässigen Verlust seines eigenen Sohnes nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkommen und wählt ein Findelkind von der Straße als Ersatz. Damit begeht er einen Fehler, denn der „männliche Rivalitätskampf' (Rieger, S.33) eines impotenten Alten mit einem potenten Jungen wird durch die Aufnahme eines männlichen Kindes quasi vorprogrammiert. Die­ ser übereilte „Kindertausch" (Scheffels, S.161:f) wird noch dadurch ver­ stärkt, dass der Findling dem von seiner Frau verehrten Ritter Colino ähn­lich sieht210. Nicolo kommt also von Anfang an eine Ersatzrolle innerhalb der Familie Piachis zu, die maßgeblich auf seinen Körper rekurriert.

Die Ehe der beiden Erwachsenen ist nicht nur aufgrund des ausbleibenden ehelichen Verkehrs eine „Scheinehe"211, sondern auch, weil es beiden an ,,interfigürlicher Kommunikation und Sensitiviät" fehlt (Rieger, S. 202)212. Doch nicht nur Piachi ist ein Mann mit schwächlicher Konstitution, auch seine Frau leidet chronisch an den Folgen eines Kindheitstraumas: Im Alter von 13 Jahren rettete sie ein junger Mann aus ihrem brennenden Elternhaus und starb an den Folgen (223). Ihr selbst blieb dieses Erlebnis durch einen „stillen Zug von Traurigkeit im Gemüt" (222) präsent, auch dann noch, als sie Piachi heiratete (223). Kurz nach der Hochzeit erkrankte sie an einem ,,hitzigen Fieber" (224), das sich zu einem chronisch „überreizten Nerven­ system" (224) entwickelte. Zurück blieb ein „mildes, von Affekten selten bewegtes Antlitz" (227), auf dem sich Gefühle nur zeigen, wenn sie ihren Retter betreffen213 . Ihre Ehe mit einem alten Mann bietet ihr väterlichen Schutz ohne „Gattinpflicht", wie sich im J]brigen auch die Marquise arran­ giert. Die erotische Seite ihrer Weiblichkeit, ihr Begehren, kann Elvire, auch von Piachi ungestört, am Bild Colinos ausphantasieren214 Ein Bild reagiert nicht und bietet somit die ideale Projektionsfläche für eine gefahrlose, d.h. sündenfreie Erotik215. So ist die körper- und willenlose Ikone des genuesi­schen Ritters als Sublimation ihrer erotischen Empfindungen lesbar216.

Zu Gunsten des kleinen Findlings, der „so fremd und steif ... vor ihr stand" (221) überwindet Elvire aber ihre stete Traurigkeit, indem sie ihn „an ihre Brust drückte, ihm das Bette, worin jener geschlafen hatte, zum Lager an­ wies, und sämtliche Kleider desselben zum Geschenk machte" (221 ). Nicht nur sie, auch Piachi vollzieht den Kindertausch binnen kürzester Frist: Piachi schickte ihn in die Schule ... und da er ... den Jungen in dem Maße lieb­ gewonnen, als er ihm teuer zu stehen gekommen war, so adoptierte er ihn, mit Einwilligung der guten Elvire ... schon nach wenigen Wochen, als seinen Sohn. (221) Der Hinweis auf den Preis für den Jungen, hier auf das teure Schulgeld be­ zogen, deutet Piachis Charakter an. Er ist ein „wohlhabender Güterhändler" (219) und Geschäftsmann, ohne Aussicht auf einen Erben. Als „ein ge­ schworner Feind aller Bigotterie" (221) ist er im Grunde doch ein Pharisäer: Er bricht seine Geschäftsreise erst ab, nachdem ihm klar wird, dass bei ge­schlossenen Stadttoren ohnehin kein Handel möglich ist . Beide, Piachi und Elvire, suchen mit ihrem vermeintlichen Altruismus ihre individuellen Schwächen zu büßen. Piachi will sich selbst etwas Gutes tun und seine Frau dabei schonen; Elvire wiederum kann durch die Adoption ihren mütter­ lichen Pflichten nachkommen, und so die götzenhafte Anbetung der Ikone Colinos sühnen, ohne mit dem 3.Gebot in Konflikt zu geraten.

Nicolo aber stört und zerstört dieses Arrangement von christlichem An­spruch und individueller Bequemlichkeit; sein Körper tritt unübersehbar zwischen die Eltern und durchbricht in seiner realen Lebhaftigkeit die un­realistische Imagination der Alten. Denn sie missachten den kleinen Jungen in einer besonderen Art und Weise: Sie zwingen ihn ungefragt in die Rolle des verstorbenen Paolo, das macht besonders die Kleidergabe deutlich, und ignorieren Nicolos eigene Persönlichkeit. Sein schlechter Charakter, vorhersehbar im „früh in der Brust desselben sich regenden Hang für das weibliche Geschlecht" (222), hindert sie nicht daran, ihm all ihr Hab und Gut zu überschreiben.

Störfaktor Körper: Nicolo als Inkarnation des ßösen

Triebhaftigkeit und Willensstärke sind die beiden Faktoren, die einen Men­ schen zu einem unberechenbaren Körper machen. Beides sind die charak­ terlichen Eigenschaften des Findlings Nicolo, der als diametrale Gegenfigur zum körperlosen Helden Colino den „höllischen Bösewicht" (235) darstellt. Diese Polarität zwischen Colino und Nicolo wird im Text verdeutlicht anhand der auffallig detaillierten Körperdarstellung des Findlings:

Er war von einer besonderen, etwas starren Schönheit, seine schwarzen Haare hin­ gen ihm, in schlichten Spitzen, von der Stjm herab, ein Gesicht beschattend. das, ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte.  (221)21 8

Die Pestinfizierung (219) macht seinen Körper zu einer Art ,biologischen Waffe'. Jedoch: hinter seiner starren Miene kocht weniger das Gift der Pest, als das seiner maßlosen Begierde; sie wird schon früh symbolisch angedeu­ tet im kindlichen „Nüsseknacken"219. Nicolos Miene verändert sich zuneh­ mend mit seiner stetig offenkundiger werdenden Bosheit. Mit „einem häßli­ chen Zucken seiner Oberlippe" verlässt er den Raum (233) bei der Ent­ deckung, dass Elvires Angebeteter doch nicht er selber ist. Auch die Verle­ genheit gegenüber Xaviera treibt ihm die Farbe ins Gesicht220. Göttler (S.28) geht von Nicolos „absoluten, nicht wandelbaren Charakter" aus, der sich in seiner Kindheit nur mittels einer undurchschaubaren Mimik kaschie­ ren ließ221. Doch „sein verwildertes Herz" (231) versucht sich des guten Herzens Elvires zu bemächtigen:

Er hatte ... im Scharfsinn seiner schändlichen Leidenschaft, ganz richtig gerech­ net; denn kaum hatte Elvire ... nach einer stillen und ruhigen Entkleidung ...den seidenen Vorhang, der die Nische bedeckte, eröffnet und ihn erblickt: als sie schon: Colino! Mein Geliebter! Rief und ohnmächtig auf das Getäfel des Bodens niedersank. Nicolo trat aus der Nische hervor; er stand einen Augenblick, im An­ schauen ihrer Reize versunken, und betrachtete ihre zarte, unter dem Kuß des To­ des plötzlich erblassende Gestalt: hob sie aber bald, da keine Zeit zu verlieren war, in seinen Armen auf, und trug sie ... auf das im Winkel des Zimmers stehende Bett. Dies abgetan, ging er, die Tür zu verriegeln ... und sicher, daß sie auch nach Wiederkehr ihrer verstörten Sinne, seiner phantastischen, dem Ansehen nach überirdischen Erscheinung keinen Widerstand leisten würde, kehrte er jetzt zu dem Lager zurück, bemüht, sie mit heißen Küssen auf Brust und Lippen aufzuwecken. (234)222

Scheffels (S.170) deutet die Bettszene als eine, die „unter veränderten Vor­ zeichen noch einmal die Gesamtkonstellation [bezeichnet]; Nicolos Ver­ such, in die Familie einzudringen, wurde ihm durch den Vater verweigert". Seine Interpretation lässt sich noch spezifizieren: Nicolos körperlicher Ver­ such, in die Familie, die nicht ihn persönlich, sondern nur eine Projektion auf ihn, adoptieren wollte, wird ihm verweigert.

Am Wendepunkt der Erzählung (234f)223 reagieren alle Beteiligten körperlich, weil Nicolo als von seiner Physis beherrschter Mensch das Ge­schehen bestimmt. Er vergreift sich an Elvire, wird gestört und von einem sprachlosen Piachi, Elvire im Arm und eine Peitsche in der Hand, des Hau­ses und damit der Familie verwiesen. Doch die gestische Ausweisung des Findlings aus dem familiären Bündnis scheitert an der testamentarischen Verfügung22, so dass Piachi zu körperlichen Mitteln greift. Er mobilisiert seine längst erloschen geglaubten Kräfte, wirft „den von Natur schwächeren Nicole nieder und drückt(e) ihm das Gehirn an der Wand ein" (236). Um das ursprünglich autoritäre Beziehungsgefüge225 wieder herzustellen, ver­ greift er sich noch einmal an dem schon zertrümmerten Kopf, ,,da er den Nicole zwischen den Knien hielt, und ihm das Dekret in den Mund stopfte." Die „Kippfigur" Nicoles vor Piachi, die nach einer quasi religiösen Unter­ werfungsgeste umschlägt „zur plötzlichen Herrschaftsusurpation" (Österle, S.176) wird in der Körpersprache deutlich: Zunächst steht der an Elvires Bett ertappte Nicole „wie vom Donner gerührt" (234), als Piachi unerwartet eintritt. Darauf, weil „seine Büberei auf keine Weise zu bemänteln war", wirft er sich „dem Alten zu Füßen, und bittet um Vergebung" (234). Da ihm diese aber nicht gewährt wird, richtet er sich zu voller Größe auf und bean­ sprucht Haus und Hof „Durch diese unerhörte Frechheit wie entwaffnet" (235), legt Piachi seine Peitsche weg und läuft davon. Während Nicoles Triebhaftigkeit die Ursache für den Eklat innerhalb der Familie aus­ machte226, ist seine Willensstärke, sich im entscheidenden Moment auf ein Papier zu berufen und damit „eines Tartüffe völlig würdig" (235) zu erwei­ sen, der Auslöser für seine Ausweisung bzw. Auslöschung. Erst Tage später kehrt der Vater zurück und reißt die Macht wieder an sich.

Scheffels (S.161) verwendet für den Findling den Begriff „übersehener Körper", weil seine Eingliederung nicht über den Körper, sondern über die Ökonomie erfolgt. Den „fremden und fremd gehenden Körper" (S.164) ver­ suchen die Eltern zu disziplinieren, weil sie seine körperlichen Eskapaden und die Brechung des Inzest-Tabus fürchten. Doch nicht nur der fremde Körper macht ihnen Angst, auch ihr eigener scheint ihnen so unheimlich, dass sie auch sich selbst reglementieren: Der alte Mann sublimiert seine Triebe durch Arbeit, die Frau die ihrigen durch mystische Liebe. Nicolo aber verweigert sich jedem Reglement: ,,Der Körper, der im Hause nichts gilt, wird außerhalb des Familienraumes verabsolutiert" (Scheffels, S.163): Nicolos hemmungslose sexuelle Entfaltung, z.B. in der Beziehung zu Xa­ viera227, ist ein Aspekt, den seine Eltern sich selbst verboten haben. Darüber hinaus kommt sein Verkleidungsspiel einer symbolischen Verdopplung sei­ nes Körpers gleich228. Somit trägt Nicole seinen Beinamen zu Recht: er ist wahrhaftig ein Findling, ein harter Brocken, scheinbar zufällig in eine als Familie arrangierte Landschaft geworfen229.

In dieser Erzählung ist nur das Böse real fassbar, der einzige Held ist tot und zu einem Bild erstarrt230. Das heroische Ideal ist nur noch eine geistige Projektion von Etwas, das auf Erden nicht lebensfähig ist. Doch Autor und Er­zählung bemühen sich, die fatale Erkenntnis zu retten: Auch wenn der, die reale und die erzählte Zeit, regierende Geist ein böser zu sein scheint231, so bleibt den Menschen das Bild des Guten weiter im Gedächtnis. Oder, um mit Kleist zu sprechen: ,,Es kann kein böser Geist sein, der an der Spitze der Welt steht: es ist bloß ein unbegriffener!"232.