Nelly-Sachs-Gymnasium Neuss/Erzählungen: Lebensentwürfe in der Literatur aus unterschiedlichen historischen Kontexten/Heinrich v. Kleist: Der Findling: Unterschied zwischen den Versionen

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Im ''Findling,'' veröffentlicht zuerst 1811, dreht sich alles um einen toten Hel­den und einen lebendigen Bösewicht: Nicolo, ein Waisenkind, und Colino, einen längst verstorbenen Ritter. Und es geht um Elvire und Piachi, ein seltsames, einsames Ehepaar, vermögend und kinderlos geworden, die als Adoptiveltern des kleinen Nicolo versuchen, sich heroisch im Sinne der christlichen Nächs­tenliebe zu verhalten, indem sie die pestinfizierte Waise Nicolo in ihre Familie aufnehmen. 
 
Doch diese Adoption scheitert: Nicolo, wild, eigensinnig, stört und zerstört den Plan, den die Eltern für ihn haben. Er verhält sich faul, undankbar, betrügerisch, skandalös und unfassbar dreist seinen Adoptiveltern gegenüber, die seinen Eskapaden nichts entgegen zu setzen haben als autoritäre Strenge und schamvolle Missachtung.
 
Am Ende sind alle tot: Elvire stirbt an den Folgen eines körperlichen Übergriffs durch Nicolo, der daraufhin von Piachi, seinem Adoptivvater, erschlagen wird, weshalb dieser dafür sein Leben am Galgen beenden muss. Und Colino, der einzige Held dieser Geschichte? Er starb schon lange vor der Hochzeit von Elvire und Piachi bei Elvires Rettung aus einem brennenden Haus. Seitdem geistert er als heroischer Geist in der Erinnerung Elvires durch ihr Leben und ihr familiäres Konstrukt, das nicht funktionieren kann, weil Nicolo einfach nicht funktionieren will.
 
'''''Piachi und Elvire: Scheinehe und christlicher Anspruch'''''
 
Die Eheleute Antonio und Elvire Piachi bilden ein recht ungleiches Paar: Piachi gehört mit seinen geschätzten 51 Jahren (Rieger<ref name=":0">Rieger, Bernhard: Geschlechterrollen und Familienstrukturen in den Erzählungen Heinrich v. Kleists. Frankfurt/M. 1985</ref>, S.28) zu den Grei­sen in Kleists Erzählungen, seine Frau ist nicht einmal halb so alt wie er. Obwohl physisch längst nicht mehr auf der Höhe<ref>Vgl. 221: ,,Elvire, welche von dem Alten keine Kinder mehr zu erhalten hoffen konnte... "</ref>, versucht Piachi, seine kör­perliche Schwäche durch „vorwiegend männlich-autoritäre Charakterzüge" (Textausgabe<ref name=":1">Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. v. Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Peter Goldammer, Wolfgang Barthel, Anita Goltz, Rudolf Loch. Band 3. 1. Aufl. Berlin/Weimar: Aufbau- Verlag 1978.</ref>, S.33), zu kompensieren. Dieser „gefährdete Patriarch" (Rieger<ref name=":0" />, S.28) will nach dem fahrlässigen Verlust seines eigenen Sohnes nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkommen und wählt ein Findelkind von der Straße als Ersatz. Damit begeht er einen Fehler, denn der „männliche Rivalitätskampf" (Rieger<ref name=":0" />, S.33) eines impotenten Alten mit einem potenten Jungen wird durch die Aufnahme eines männlichen Kindes quasi vorprogrammiert. Die­ser übereilte „Kindertausch" (Scheffels<ref>Scheffels, Klaus-Christoph: Rückzug. Zur Neigung von Raum- und Körperordnungen im Werk Heinrich v. Kleists. Frankfurt/M. 1986.</ref>, S.161f.) wird noch dadurch ver­stärkt, dass der Findling dem von seiner Frau verehrten, längst verstorbenen Ritter Colino ähn­lich sieht (Vgl. S. 229<ref name=":1" />). Nicolo kommt also von Anfang an eine Ersatzrolle innerhalb der Familie Piachis zu, die maßgeblich auf seinen Körper rekurriert.
 
Die Ehe der beiden Erwachsenen ist nicht nur aufgrund des ausbleibenden ehelichen Verkehrs gefährdet, sondern auch, weil beide Eheleute eher gebrechlich sind<ref>Nicht nur Piachi ist ein Mann mit schwächlicher Konstitution, auch seine Frau leidet chronisch an den Folgen eines Kindheitstraumas: Im Alter von 13 Jahren rettete sie ein junger Mann aus ihrem brennenden Elternhaus und starb an den Folgen dieser Rettungsaktion (Vgl. S. 223). Ihr selbst blieb dieses Erlebnis durch einen „stillen Zug von Traurigkeit im Gemüt" (S. 222) präsent, auch dann noch, als sie Piachi heiratete (S. 223). Kurz nach der Hochzeit erkrankte sie an einem ,,hitzigen Fieber" (S. 224), das sich zu einem chronisch „überreizten Nerven­system" (S. 224) entwickelte. Zurück blieb ein „mildes, von Affekten selten bewegtes Antlitz" (S. 227), auf dem sich Gefühle nur zeigen, wenn sie ihren Retter betreffen (z.B. S. 213)</ref> und praktisch nicht miteinander reden: Gespräche zwischen ihnen werden auf das Nötigste beschränkt, z.B. die Nachricht vom Tod des Sohnes „unter einer kurzen Erzählung des Vorfalls" abgehandelt (S. 221<ref name=":1" />).
 
Zu Gunsten des kleinen Findlings, der „so fremd und steif ... vor ihr stand" (S. 221<ref name=":1" />) überwindet Elvire aber ihre stete Traurigkeit, indem sie ihn „an ihre Brust drückte, ihm das Bette, worin jener geschlafen hatte, zum Lager an­ wies, und sämtliche Kleider desselben zum Geschenk machte" (ebd). Nicht nur sie, auch Piachi vollzieht den Kindertausch binnen kürzester Frist: Piachi schickte ihn in die Schule ... und da er ... den Jungen in dem Maße lieb­ gewonnen, als er ihm teuer zu stehen gekommen war, so adoptierte er ihn, mit Einwilligung der guten Elvire ... schon nach wenigen Wochen, als seinen Sohn" (ebd). Der Hinweis auf den Preis für den Jungen, hier auf das teure Schulgeld be­zogen, deutet Piachis Charakter an. Er ist ein „wohlhabender Güterhändler" (S. 219<ref name=":1" />) und Geschäftsmann, ohne Aussicht auf einen Erben. Als „ein geschworner Feind aller Bigotterie" (S. 221<ref name=":1" />) ist er im Grunde doch ein Pharisäer: Er bricht seine Geschäftsreise erst ab, nachdem ihm klar wird, dass bei ge­schlossenen Stadttoren ohnehin kein Handel möglich ist. Beide, Piachi und Elvire, suchen mit ihrem vermeintlichen Altruismus ihre individuellen Schwächen zu büßen. Piachi will sich selbst etwas Gutes tun und seine Frau dabei schonen; Elvire wiederum kann durch die Adoption ihren mütter­lichen Pflichten nachkommen, und so die götzenhafte Anbetung der Ikone Colinos sühnen, ohne mit dem 3. Gebot in Konflikt zu geraten.
 
Nicolo aber stört und zerstört dieses Arrangement von christlichem An­spruch und individueller Bequemlichkeit: Sein Körper tritt unübersehbar zwischen die Eltern und durchbricht in seiner realen Lebhaftigkeit die un­realistische Imagination der Alten. Denn sie missachten den kleinen Jungen in einer besonderen Art und Weise: Sie zwingen ihn ungefragt in die Rolle des verstorbenen Paolo, das macht besonders die Kleidergabe deutlich, und ignorieren Nicolos eigene Persönlichkeit. Sein schlechter Charakter, vorhersehbar im „früh in der Brust desselben sich regenden Hang für das weibliche Geschlecht" (S. 222<ref name=":1" />), hindert sie nicht daran, ihm all ihr Hab und Gut zu überschreiben.
 
'''''Störfaktor Körper: Nicolo als Inkarnation des Bösen'''''
 
Triebhaftigkeit und Willensstärke sind die beiden Faktoren, die einen Menschen zu einem unberechenbaren Körper machen. Beides sind die charak­terlichen Eigenschaften des Findlings Nicolo, der als diametrale Gegenfigur zum körperlosen Helden Colino den „höllischen Bösewicht" (S. 235<ref name=":1" />) darstellt. Diese Polarität zwischen Colino und Nicolo wird im Text verdeutlicht anhand der auffallig detaillierten Körperdarstellung des Findlings: "Er war von einer besonderen, etwas starren Schönheit, seine schwarzen Haare hin­gen ihm, in schlichten Spitzen, von der Stirn herab, ein Gesicht beschattend, das, ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte" (S. 221<ref name=":1" />).
 
Die Pestinfizierung (S. 219<ref name=":1" />) macht seinen Körper zu einer Art ,biologischen Waffe'. Jedoch: hinter seiner starren Miene kocht weniger das Gift der Pest, als das seiner maßlosen Begierde; sie wird schon früh symbolisch angedeu­tet im kindlichen „Nüsseknacken" (ebd)'''.''' Nicolos Miene verändert sich zuneh­mend mit seiner stetig offenkundiger werdenden Bosheit. Mit „einem häßli­chen Zucken seiner Oberlippe" verlässt er den Raum (S. 233<ref name=":1" />) bei der Ent­deckung, dass Elvires Angebeteter doch nicht er selber ist. Auch die Verle­genheit gegenüber Xaviera treibt ihm die Farbe ins Gesicht. Göttler<ref>Göttler, Fritz: Handlungssysteme in Heinrich v. Kleists ''Der Findling''. Diskussion und Anwendung narrativer Kategorien und Analyseverfahren. Frankfurt/M./Bern 1983.</ref> (S.28) geht von Nicolos „absoluten, nicht wandelbaren Charakter" aus, der sich in seiner Kindheit nur mittels einer undurchschaubaren Mimik kaschie­ren ließ. „Sein verwildertes Herz" (S. 231<ref name=":1" />) versucht sich des guten Herzens Elvires zu bemächtigen: "Er hatte ... im Scharfsinn seiner schändlichen Leidenschaft, ganz richtig gerech­net; denn kaum hatte Elvire ... nach einer stillen und ruhigen Entkleidung ...den seidenen Vorhang, der die Nische bedeckte, eröffnet und ihn erblickt: als sie schon: Colino! Mein Geliebter! Rief und ohnmächtig auf das Getäfel des Bodens niedersank. Nicolo trat aus der Nische hervor; er stand einen Augenblick, im An­ schauen ihrer Reize versunken, und betrachtete ihre zarte, unter dem Kuß des To­des plötzlich erblassende Gestalt: hob sie aber bald, da keine Zeit zu verlieren war, in seinen Armen auf, und trug sie ... auf das im Winkel des Zimmers stehende Bett. Dies abgetan, ging er, die Tür zu verriegeln ... und sicher, dass sie auch nach Wiederkehr ihrer verstörten Sinne, seiner phantastischen, dem Ansehen nach überirdischen Erscheinung keinen Widerstand leisten würde, kehrte er jetzt zu dem Lager zurück, bemüht, sie mit heißen Küssen auf Brust und Lippen aufzuwecken" (S. 234<ref name=":1" />).
 
Die „Kippfigur" Nicolos vor Piachi, die nach einer quasi religiösen Unter­werfungsgeste umschlägt „zur plötzlichen Herrschaftsusurpation" (Österle<ref>Österle, Günther: "Der Findling. Redlichkeit versus Verstellung - oder zwei Arten, böse zu werden." In: Interpretationen Kleists Erzählungen (=Literaturstudium Interpretationen). Hsrg. v. Walter Hinderer. Stuttgart: RUB 1998, S. 157 - 180.</ref>, S.176) wird in der Körpersprache deutlich: Zunächst steht der an Elvires Bett ertappte Nicolo „wie vom Donner gerührt" (S. 234<ref name=":1" />), als Piachi unerwartet eintritt. Darauf, weil „seine Büberei auf keine Weise zu bemänteln war", wirft er sich „dem Alten zu Füßen, und bittet um Vergebung" (ebd.). Da ihm diese aber nicht gewährt wird, richtet er sich zu voller Größe auf und bean­sprucht Haus und Hof „Durch diese unerhörte Frechheit wie entwaffnet" (S. 235<ref name=":1" />), legt Piachi seine Peitsche weg und läuft davon. Während Nicolos Triebhaftigkeit die Ursache für den Eklat innerhalb der Familie aus­ machte, ist seine Willensstärke, sich im entscheidenden Moment auf ein Papier zu berufen und damit „eines Tartüffe völlig würdig" (ebd.) zu erwei­sen, der Auslöser für seine Ausweisung bzw. Auslöschung. Erst Tage später kehrt der Vater zurück und reißt die Macht wieder an sich. Piachi mobilisiert seine längst erloschen geglaubten Kräfte, wirft „den von Natur schwächeren Nicole nieder und drückt(e) ihm das Gehirn an der Wand ein" (S. 236<ref name=":1" />). Um das ursprünglich autoritäre Beziehungsgefüge wieder herzustellen, ver­greift er sich noch einmal an dem schon zertrümmerten Kopf, ,,da er den Nicole zwischen den Knien hielt, und ihm das Dekret in den Mund stopfte" (ebd.)
 
Somit trägt Nicolo seinen Beinamen zu Recht: er ist wahrhaftig ein Findling, ein harter Brocken, scheinbar zufällig in eine als Familie arrangierte Landschaft geworfen: Denn nach Grimms Wörterbuch<ref>Grimms, Jakob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1862, Bd. 3, S.1649</ref> ist ein ,,Findelkind" oder „eingefangene, herrenlose thiere" bzw. ,,in dem sand und schuttlande zerstreut liegende gesteinblöcke, durch fluten oder eisschollen dahin getragen."<br />
<references />

Aktuelle Version vom 10. Juli 2022, 21:45 Uhr

Findling Uchte 2017.

Im Findling, veröffentlicht zuerst 1811, dreht sich alles um einen toten Hel­den und einen lebendigen Bösewicht: Nicolo, ein Waisenkind, und Colino, einen längst verstorbenen Ritter. Und es geht um Elvire und Piachi, ein seltsames, einsames Ehepaar, vermögend und kinderlos geworden, die als Adoptiveltern des kleinen Nicolo versuchen, sich heroisch im Sinne der christlichen Nächs­tenliebe zu verhalten, indem sie die pestinfizierte Waise Nicolo in ihre Familie aufnehmen.

Doch diese Adoption scheitert: Nicolo, wild, eigensinnig, stört und zerstört den Plan, den die Eltern für ihn haben. Er verhält sich faul, undankbar, betrügerisch, skandalös und unfassbar dreist seinen Adoptiveltern gegenüber, die seinen Eskapaden nichts entgegen zu setzen haben als autoritäre Strenge und schamvolle Missachtung.

Am Ende sind alle tot: Elvire stirbt an den Folgen eines körperlichen Übergriffs durch Nicolo, der daraufhin von Piachi, seinem Adoptivvater, erschlagen wird, weshalb dieser dafür sein Leben am Galgen beenden muss. Und Colino, der einzige Held dieser Geschichte? Er starb schon lange vor der Hochzeit von Elvire und Piachi bei Elvires Rettung aus einem brennenden Haus. Seitdem geistert er als heroischer Geist in der Erinnerung Elvires durch ihr Leben und ihr familiäres Konstrukt, das nicht funktionieren kann, weil Nicolo einfach nicht funktionieren will.

Piachi und Elvire: Scheinehe und christlicher Anspruch

Die Eheleute Antonio und Elvire Piachi bilden ein recht ungleiches Paar: Piachi gehört mit seinen geschätzten 51 Jahren (Rieger[1], S.28) zu den Grei­sen in Kleists Erzählungen, seine Frau ist nicht einmal halb so alt wie er. Obwohl physisch längst nicht mehr auf der Höhe[2], versucht Piachi, seine kör­perliche Schwäche durch „vorwiegend männlich-autoritäre Charakterzüge" (Textausgabe[3], S.33), zu kompensieren. Dieser „gefährdete Patriarch" (Rieger[1], S.28) will nach dem fahrlässigen Verlust seines eigenen Sohnes nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkommen und wählt ein Findelkind von der Straße als Ersatz. Damit begeht er einen Fehler, denn der „männliche Rivalitätskampf" (Rieger[1], S.33) eines impotenten Alten mit einem potenten Jungen wird durch die Aufnahme eines männlichen Kindes quasi vorprogrammiert. Die­ser übereilte „Kindertausch" (Scheffels[4], S.161f.) wird noch dadurch ver­stärkt, dass der Findling dem von seiner Frau verehrten, längst verstorbenen Ritter Colino ähn­lich sieht (Vgl. S. 229[3]). Nicolo kommt also von Anfang an eine Ersatzrolle innerhalb der Familie Piachis zu, die maßgeblich auf seinen Körper rekurriert.

Die Ehe der beiden Erwachsenen ist nicht nur aufgrund des ausbleibenden ehelichen Verkehrs gefährdet, sondern auch, weil beide Eheleute eher gebrechlich sind[5] und praktisch nicht miteinander reden: Gespräche zwischen ihnen werden auf das Nötigste beschränkt, z.B. die Nachricht vom Tod des Sohnes „unter einer kurzen Erzählung des Vorfalls" abgehandelt (S. 221[3]).

Zu Gunsten des kleinen Findlings, der „so fremd und steif ... vor ihr stand" (S. 221[3]) überwindet Elvire aber ihre stete Traurigkeit, indem sie ihn „an ihre Brust drückte, ihm das Bette, worin jener geschlafen hatte, zum Lager an­ wies, und sämtliche Kleider desselben zum Geschenk machte" (ebd). Nicht nur sie, auch Piachi vollzieht den Kindertausch binnen kürzester Frist: Piachi schickte ihn in die Schule ... und da er ... den Jungen in dem Maße lieb­ gewonnen, als er ihm teuer zu stehen gekommen war, so adoptierte er ihn, mit Einwilligung der guten Elvire ... schon nach wenigen Wochen, als seinen Sohn" (ebd). Der Hinweis auf den Preis für den Jungen, hier auf das teure Schulgeld be­zogen, deutet Piachis Charakter an. Er ist ein „wohlhabender Güterhändler" (S. 219[3]) und Geschäftsmann, ohne Aussicht auf einen Erben. Als „ein geschworner Feind aller Bigotterie" (S. 221[3]) ist er im Grunde doch ein Pharisäer: Er bricht seine Geschäftsreise erst ab, nachdem ihm klar wird, dass bei ge­schlossenen Stadttoren ohnehin kein Handel möglich ist. Beide, Piachi und Elvire, suchen mit ihrem vermeintlichen Altruismus ihre individuellen Schwächen zu büßen. Piachi will sich selbst etwas Gutes tun und seine Frau dabei schonen; Elvire wiederum kann durch die Adoption ihren mütter­lichen Pflichten nachkommen, und so die götzenhafte Anbetung der Ikone Colinos sühnen, ohne mit dem 3. Gebot in Konflikt zu geraten.

Nicolo aber stört und zerstört dieses Arrangement von christlichem An­spruch und individueller Bequemlichkeit: Sein Körper tritt unübersehbar zwischen die Eltern und durchbricht in seiner realen Lebhaftigkeit die un­realistische Imagination der Alten. Denn sie missachten den kleinen Jungen in einer besonderen Art und Weise: Sie zwingen ihn ungefragt in die Rolle des verstorbenen Paolo, das macht besonders die Kleidergabe deutlich, und ignorieren Nicolos eigene Persönlichkeit. Sein schlechter Charakter, vorhersehbar im „früh in der Brust desselben sich regenden Hang für das weibliche Geschlecht" (S. 222[3]), hindert sie nicht daran, ihm all ihr Hab und Gut zu überschreiben.

Störfaktor Körper: Nicolo als Inkarnation des Bösen

Triebhaftigkeit und Willensstärke sind die beiden Faktoren, die einen Menschen zu einem unberechenbaren Körper machen. Beides sind die charak­terlichen Eigenschaften des Findlings Nicolo, der als diametrale Gegenfigur zum körperlosen Helden Colino den „höllischen Bösewicht" (S. 235[3]) darstellt. Diese Polarität zwischen Colino und Nicolo wird im Text verdeutlicht anhand der auffallig detaillierten Körperdarstellung des Findlings: "Er war von einer besonderen, etwas starren Schönheit, seine schwarzen Haare hin­gen ihm, in schlichten Spitzen, von der Stirn herab, ein Gesicht beschattend, das, ernst und klug, seine Mienen niemals veränderte" (S. 221[3]).

Die Pestinfizierung (S. 219[3]) macht seinen Körper zu einer Art ,biologischen Waffe'. Jedoch: hinter seiner starren Miene kocht weniger das Gift der Pest, als das seiner maßlosen Begierde; sie wird schon früh symbolisch angedeu­tet im kindlichen „Nüsseknacken" (ebd). Nicolos Miene verändert sich zuneh­mend mit seiner stetig offenkundiger werdenden Bosheit. Mit „einem häßli­chen Zucken seiner Oberlippe" verlässt er den Raum (S. 233[3]) bei der Ent­deckung, dass Elvires Angebeteter doch nicht er selber ist. Auch die Verle­genheit gegenüber Xaviera treibt ihm die Farbe ins Gesicht. Göttler[6] (S.28) geht von Nicolos „absoluten, nicht wandelbaren Charakter" aus, der sich in seiner Kindheit nur mittels einer undurchschaubaren Mimik kaschie­ren ließ. „Sein verwildertes Herz" (S. 231[3]) versucht sich des guten Herzens Elvires zu bemächtigen: "Er hatte ... im Scharfsinn seiner schändlichen Leidenschaft, ganz richtig gerech­net; denn kaum hatte Elvire ... nach einer stillen und ruhigen Entkleidung ...den seidenen Vorhang, der die Nische bedeckte, eröffnet und ihn erblickt: als sie schon: Colino! Mein Geliebter! Rief und ohnmächtig auf das Getäfel des Bodens niedersank. Nicolo trat aus der Nische hervor; er stand einen Augenblick, im An­ schauen ihrer Reize versunken, und betrachtete ihre zarte, unter dem Kuß des To­des plötzlich erblassende Gestalt: hob sie aber bald, da keine Zeit zu verlieren war, in seinen Armen auf, und trug sie ... auf das im Winkel des Zimmers stehende Bett. Dies abgetan, ging er, die Tür zu verriegeln ... und sicher, dass sie auch nach Wiederkehr ihrer verstörten Sinne, seiner phantastischen, dem Ansehen nach überirdischen Erscheinung keinen Widerstand leisten würde, kehrte er jetzt zu dem Lager zurück, bemüht, sie mit heißen Küssen auf Brust und Lippen aufzuwecken" (S. 234[3]).

Die „Kippfigur" Nicolos vor Piachi, die nach einer quasi religiösen Unter­werfungsgeste umschlägt „zur plötzlichen Herrschaftsusurpation" (Österle[7], S.176) wird in der Körpersprache deutlich: Zunächst steht der an Elvires Bett ertappte Nicolo „wie vom Donner gerührt" (S. 234[3]), als Piachi unerwartet eintritt. Darauf, weil „seine Büberei auf keine Weise zu bemänteln war", wirft er sich „dem Alten zu Füßen, und bittet um Vergebung" (ebd.). Da ihm diese aber nicht gewährt wird, richtet er sich zu voller Größe auf und bean­sprucht Haus und Hof „Durch diese unerhörte Frechheit wie entwaffnet" (S. 235[3]), legt Piachi seine Peitsche weg und läuft davon. Während Nicolos Triebhaftigkeit die Ursache für den Eklat innerhalb der Familie aus­ machte, ist seine Willensstärke, sich im entscheidenden Moment auf ein Papier zu berufen und damit „eines Tartüffe völlig würdig" (ebd.) zu erwei­sen, der Auslöser für seine Ausweisung bzw. Auslöschung. Erst Tage später kehrt der Vater zurück und reißt die Macht wieder an sich. Piachi mobilisiert seine längst erloschen geglaubten Kräfte, wirft „den von Natur schwächeren Nicole nieder und drückt(e) ihm das Gehirn an der Wand ein" (S. 236[3]). Um das ursprünglich autoritäre Beziehungsgefüge wieder herzustellen, ver­greift er sich noch einmal an dem schon zertrümmerten Kopf, ,,da er den Nicole zwischen den Knien hielt, und ihm das Dekret in den Mund stopfte" (ebd.)

Somit trägt Nicolo seinen Beinamen zu Recht: er ist wahrhaftig ein Findling, ein harter Brocken, scheinbar zufällig in eine als Familie arrangierte Landschaft geworfen: Denn nach Grimms Wörterbuch[8] ist ein ,,Findelkind" oder „eingefangene, herrenlose thiere" bzw. ,,in dem sand und schuttlande zerstreut liegende gesteinblöcke, durch fluten oder eisschollen dahin getragen."

  1. 1,0 1,1 1,2 Rieger, Bernhard: Geschlechterrollen und Familienstrukturen in den Erzählungen Heinrich v. Kleists. Frankfurt/M. 1985
  2. Vgl. 221: ,,Elvire, welche von dem Alten keine Kinder mehr zu erhalten hoffen konnte... "
  3. 3,00 3,01 3,02 3,03 3,04 3,05 3,06 3,07 3,08 3,09 3,10 3,11 3,12 3,13 3,14 3,15 Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. v. Siegfried Streller in Zusammenarbeit mit Peter Goldammer, Wolfgang Barthel, Anita Goltz, Rudolf Loch. Band 3. 1. Aufl. Berlin/Weimar: Aufbau- Verlag 1978.
  4. Scheffels, Klaus-Christoph: Rückzug. Zur Neigung von Raum- und Körperordnungen im Werk Heinrich v. Kleists. Frankfurt/M. 1986.
  5. Nicht nur Piachi ist ein Mann mit schwächlicher Konstitution, auch seine Frau leidet chronisch an den Folgen eines Kindheitstraumas: Im Alter von 13 Jahren rettete sie ein junger Mann aus ihrem brennenden Elternhaus und starb an den Folgen dieser Rettungsaktion (Vgl. S. 223). Ihr selbst blieb dieses Erlebnis durch einen „stillen Zug von Traurigkeit im Gemüt" (S. 222) präsent, auch dann noch, als sie Piachi heiratete (S. 223). Kurz nach der Hochzeit erkrankte sie an einem ,,hitzigen Fieber" (S. 224), das sich zu einem chronisch „überreizten Nerven­system" (S. 224) entwickelte. Zurück blieb ein „mildes, von Affekten selten bewegtes Antlitz" (S. 227), auf dem sich Gefühle nur zeigen, wenn sie ihren Retter betreffen (z.B. S. 213)
  6. Göttler, Fritz: Handlungssysteme in Heinrich v. Kleists Der Findling. Diskussion und Anwendung narrativer Kategorien und Analyseverfahren. Frankfurt/M./Bern 1983.
  7. Österle, Günther: "Der Findling. Redlichkeit versus Verstellung - oder zwei Arten, böse zu werden." In: Interpretationen Kleists Erzählungen (=Literaturstudium Interpretationen). Hsrg. v. Walter Hinderer. Stuttgart: RUB 1998, S. 157 - 180.
  8. Grimms, Jakob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1862, Bd. 3, S.1649