Nelly-Sachs-Gymnasium Neuss/Erzählungen: Lebensentwürfe in der Literatur aus unterschiedlichen historischen Kontexten/Der Sandmann

Aus ZUM Projektwiki

E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (1817)

Inhalt

In der Erzählung „Der Sandmann" wird die Geschichte des Studenten Nathanael erzählt, dessen Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola traumatische Kindheitserinnerungen an den von ihm gefürchteten Advokaten Coppelius weckt. Diesem gibt er die Schuld am Tode seines Vaters, der bei alchemistischen Versuchen mit Coppelius ums Leben kam. Für Nathanael ist Coppelius, den er als Kind mit dem Kinderaugen stehlenden Sandmann des Ammenmärchens identifiziert, ein „Unhold", der ihn und seine Braut Clara zerstören will. Die rational denkende Clara tut Coppelius' ,,feindliche Gewalt" als bloße Projektion Nathanaels ab. Diese Ambiguität wird nie restlos aufgeklärt und die polyperspektivische Erzählstruktur steigert die unheimliche Wirkung. Ein „Perspektiv", das Nathanael Coppola abkauft, führt zu einer grotesken Verkennung der Wirklichkeit: Der Automatenmensch Olimpia erscheint ihm wie ein beseeltes Wesen, Clara hingegen als „Holzpüppchen". Auf die Entdeckung hin, dass Olimpia nur eine leblose Puppe ist, verfällt er dem Wahnsinn. Für den Leser faszinierend konstruiert E.T.A. Hoffmann so eine Mischung von übernatürlichem (Dämonenglaube) und Psychologischem (Verfolgungswahn).[1]

Worterklärungen:

  • Wetterglas: (auch Sturmglas): Wetteranzeiger
  • Advokat: Rechtsanwalt
  • Ammenmärchen: Schauermärchen, die früher die Ammen (einfache Frauen, die die Kinder der edlen Damen aufzogen) ihren Kindern erzählt haben, um sie mit Angst gefügig zu machen.
  • Projektion: (psych.) Übertragung
  • Ambiguität: Doppeldeutigkeit
  • polyperspektivisch: vielseitig, uneindeutig
  • Perspektiv: Fernglas

Figuren

Nathanael
Coppelius
Clara

Erzähltechniken

Das Unheimliche

Ich war fest gezaubert. Auf die Gefahr entdeckt, und, wie ich deutlich dachte, hart gestraft zu werden, blieb ich stehen, den Kopf lauschend durch die Gardine hervorgestreckt. Mein Vater empfing den Coppelius feierlich. »Auf! – zum Werk«, rief dieser mit heiserer, schnurrender Stimme und warf den Rock ab. Der Vater zog still und finster seinen Schlafrock aus und beide kleideten sich in lange schwarze Kittel. Wo sie die hernahmen, hatte ich übersehen. Der Vater öffnete die Flügeltür eines Wandschranks; aber ich sah, daß das, was ich solange dafür gehalten, kein Wandschrank, sondern vielmehr eine schwarze Höhlung war, in der ein kleiner Herd stand. Coppelius trat hinzu und eine blaue Flamme knisterte auf dem Herde empor. Allerlei seltsames Geräte stand umher. Ach Gott! – wie sich nun mein alter Vater zum Feuer herabbückte, da sah er ganz anders aus. Ein gräßlicher krampfhafter Schmerz schien seine sanften ehrlichen Züge zum häßlichen widerwärtigen Teufelsbilde verzogen zu haben. Er sah dem Coppelius ähnlich. Dieser schwang die glutrote Zange und holte damit hellblinkende Massen aus dem dicken Qualm, die er dann emsig hämmerte. Mir war es als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen – scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer. »Augen her, Augen her!« rief Coppelius mit dumpfer dröhnender Stimme. Ich kreischte auf von wildem Entsetzen gewaltig erfaßt und stürzte aus meinem Versteck heraus auf den Boden. Da ergriff mich Coppelius, »kleine Bestie! – kleine Bestie!« meckerte er zähnfletschend! – riß mich auf und warf mich auf den Herd, daß die Flamme mein Haar zu sengen begann: »Nun haben wir Augen – Augen – ein schön Paar Kinderaugen.« So flüsterte Coppelius, und griff mit den Fäusten glutrote Körner aus der Flamme, die er mir in die Augen streuen wollte. Da hob mein Vater flehend die Hände empor und rief. »Meister! Meister! laß meinem Nathanael die Augen – laß sie ihm!« Coppelius lachte gellend auf und rief. »Mag denn der Junge die Augen behalten und sein Pensum flennen in der Welt; aber nun wollen wir doch den Mechanismus der Hände und der Füße recht observieren.« Und damit faßte er mich gewaltig, daß die Gelenke knackten, und schrob mir die Hände ab und die Füße und setzte sie bald hier, bald dort wieder ein. »'s steht doch überall nicht recht! 's gut so wie es war! – Der Alte hat's verstanden!« So zischte und lispelte Coppelius; aber alles um mich her wurde schwarz und finster, ein jäher Krampf durchzuckte Nerv und Gebein – ich fühlte nichts mehr. Ein sanfter warmer Hauch glitt über mein Gesicht, ich erwachte wie aus dem Todesschlaf, die Mutter hatte sich über mich hingebeugt. »Ist der Sandmann noch da?« stammelte ich. »Nein, mein liebes Kind, der ist lange, lange fort, der tut dir keinen Schaden!« – So sprach die Mutter und küßte und herzte den wiedergewonnenen Liebling.[2]


Die sogenannte Alchemisten-Szene (Reclam-Ausgabe, S. 8-10) fungiert als ein gutes Beispiel für das Verschwimmen der beiden Ebenen, der Realität und des Irrealen (Wahnvorstellungen).

Nathanael beobachtet in der Szene, wie sein Vater und Coppelius, welchen er als Sandmann betitelt, am Abend ein Experiment durchführen. Zu Beginn der Szene wird diese durch Nathanael noch sehr realistisch und klar beschrieben (vgl. Z. 1-21), diese Erzählweise verändert sich aber im Laufe der Szene. Mit dem Fortschreiten der Szene nimmt Nathanaels Fantasie immer mehr Einfluss auf seine Wahrnehmung. Diese Entwicklung deutet sich zunächst durch bildhaftere Beschreibungen und Vergleiche an „(…) zum hässlichen widerwärtigen Teufelsbild verzogen zu haben“ (Z. 26-27), bis diese schließlich dann in eine Art von Wahnvorstellungen überschlagen „Mir war es als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar“ (Z. 32-33).  Der Einfluss der Fantasie auf seine Wahrnehmung wird immer intensiver und stärker im Laufe der Szene „(…) die Gelenke knackten und schraubte mir die Hände ab und die Füße setze sie bald hier, bald dort wieder ein“ (Z. 60-64). Unterbrochen wird diese Entwicklung durch recht klare und realistische Beschreibungen des Fortgangs der Szene (vgl. Z. 37-45 und Z. 70-79), sodass es für den Rezipienten immer schwieriger wird, die Realität vom Irrealen zu unterscheiden (vgl. Z. 45-53).

Auch die Tageszeit, in der sich diese Szene ereignet, ist dabei nicht zufällig gewählt. Die Nacht war ein zentrales Motiv der Romantik und auch Hoffmann bediente sich diesem in seiner Erzählung. Mit der Nacht werden häufig Begriffe wie „mystisch“ und „träumerisch“ assoziiert. In der Nacht träumen die Menschen, das Irreale verschwimmt in den Träumen mit der Realität, und es wird in Träumen das Gefühl erzeugt, diese doch häufig irreale Situation in der Realität durchlebt zu haben. In der Alchemisten-Szene wird der Prozess, welchen die Menschen während des Träumens durchleben, durch das stetige Wechseln der beiden Ebenen für den Rezipienten erzeugt. Auch diesem fällt es durch die Erzählweise, ähnlich wie während des Prozesses des Träumens, zunehmend schwer, die Realität vom Irrealen zu unterscheiden.

Zusammenfassend ist somit zu sagen, dass sich der Einfluss von Nathanaels Fantasie auf seine Wahrnehmung im Laufe der Szene steigert. Durch das stetige Wechseln der beiden Ebenen, der Realität und des Irrealen, verschwimmen diese zunehmend. Das Motiv der Nacht unterstützt dabei die inhaltliche Entwicklung und Erzählweise der Szene. [ChTNSG]

Das Nacht-Motiv

Zum Autor


  1. Deutsch betrifft uns 6/2001, S. 1.
  2. E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. Stuttgart: Reclam 2000, S. 8-10.